Unerbittlich Historisches

Ein vergessener Krieg?

Nichts bessres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen 
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, 
wenn hinten, weit in der Türkei, 
die Völker aufeinander schlagen. 
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus 
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; 
Dann kehrt man abends froh nach Haus 
Und segnet Fried und Friedenszeiten.

Goethe, Faust 1

Am Anfang unseres Filmfestivals stand ein bekannter Gedanke: Generell ist jede mediale Berichterstattung selektiv. Sie erzeugt und bedient die Konjunkturen und Kapriolen des Aufmerksamkeitsmarktes – und hat oft eine kurze Halbwertzeit. So gibt es nicht selten Kriege, die medial überhaupt nicht mehr stattfinden, obwohl sie in vollem Gange sind. Sie müssen nur weit genug entfernt sein. Wo und wie sollten da erst die Spät- und Langzeitfolgen vergessener Kriege eine Rolle spielen können? Auch diese finden immer in der Gegenwart statt. Und treffen die Schwächsten und Machtlosesten zuerst und mit voller Wucht. Viele unserer Wettbewerbsfilme der vergangenen Festivaljahre zeigen dies in eindringlicher Intensität.

Das BIHLAFF versteht sich als interkultureller Schulterschluss zweier europäischer Regionen. Ganz Europa sieht sich durch nationalistischen Identitäts-Populismus herausgefordert. In beiden Fällen gibt es unsägliche Leugnungen, Umdeutungen oder Relativierungen historischer Verbrechen genozidaler Dimension. Hinzu kommen aktuelle geopolitische Entwicklungen, die tatsächlich den Beginn einer neuen Epoche zu markieren scheinen. Auf einen der letzten großen historischen Einschnitte, das gefeierte Ende des Kalten Krieges um 1990, kurz nach der deutschen Wiedervereinigung, folgte für BIH und den Westbalkan kein "Friedensjahrzehnt", sondern die Katastrophe: Der erste Krieg und der erste Völkermord in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.

Beides fand auf bosnischem Boden statt. Vor drei Jahrzehnten. Der Bosnienkrieg in den Jahren 1992 bis 1995. Im Juli 1995 ereignete sich der Völkermord. Als schrecklicher Höhepunkt einer ganzen Reihe verschiedener Kriegsverbrechen gilt bis heute das grauenhafte Massaker von Srebrenica, innerhalb eines von der UNO zur Schutzzone erklärten Gebiets. Es wurde verübt durch Ratko Mladic und die Armee der Republika Srpska, unterstützt von der Polizei und serbischen Paramilitärs – trotz der Anwesenheit einer kleinen Schutztruppe niederländischer UN Blauhelmsoldaten. Über 8.000 Menschen, fast ausschließlich bosniakische Männer und Jungen im Alter von 13 bis 78 Jahren, fanden hier den Tod. 

Vorangegangen war eine Kette anderer Kriegsverbrechen. Während der 1.425 Tage der Belagerung der Stadt Sarajewo durch die Armee der bosnischen Serben (VRS), Teilen der jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs wurden etwa 11.000 Menschen getötet, davon allein 1.600 Kinder. 56.000 erlitten teilweise schwere Verletzungen. An verschiedensten Orten in BiH gab es ethnische Säuberungen, gewaltsame Plünderungen, Misshandlungen und Vergewaltigungen von Frauen. In Internierungslagern wurde gefoltert.

Am 16. April 1993 fand das Massaker von Ahmici statt. Hier waren es Einheiten des Kroatischen Verteidigungsrats (HVO), die von Haus zu Haus gingen und auf grausame Weise etwa 120 bosniakische Dorfbewohner:innen ermordeten. Ähnliches geschah in der Ortschaft Vitez. Hier wurden 172 Zivilisten von HVO-Kriegsverbrechern umgebracht, 5.000 vertrieben und zahlreiche in einem Lager interniert. 

Nicht nur die unmittelbaren Zeitzeugen, also Menschen mittleren und höheren Alters, fühlen sich bis heute von dieser bleischweren, kaum zu bewältigenden Wahrheit aus Grauen, Tod und Trauma förmlich erdrückt. Andere aber zögern nicht, diese Vergangenheit zu verleugnen, zu verfälschen oder gar provokativ zu verherrlichen. Bis hin zur Androhung oder offenen Vorbereitung ihrer Fortsetzung. 

Schon damals – vor gut 30 Jahren und keine 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – trat sie wieder zutage: die fatale Sogwirkung und Wiedergeburt ethno-nationalistischer Feindbilder und militaristischer Überlegenheitsphantasien des 19. und 20. Jahrhunderts, inklusive einer Pseudo-Legitimierung durch die willkürlich umgeschriebene "Vorgeschichte" weiterer vorangegangener Jahrhunderte. Binnen kürzester Zeit verwandelte sich der Traum von einem in Frieden vereinigten Europa ausgerechnet im Westbalkan, auf dem Boden des einst im Widerstand gegen Nazi-Deutschland vereinten Vielvölkerstaats Jugoslawien, in einen Albtraum, aus dem sich bis heute immer noch viele wünschen, endlich wieder aufzuwachen. 

Schlafender Krieg – wacher Frieden 

Aber die schlimme Ahnung vieler Bosnier:innen ist eine andere: dass es vielleicht eher der Krieg ist, der nur in einen Schlaf gefallen ist. Das von außen verordnete Schweigen der Waffen und das Abkommen von Dayton haben nicht mehr als die Festschreibung eines fragilen Provisoriums erreicht. Ohne Gerechtigkeit und Würde für die Opfer und ohne reale Instrumente zur Unterbindung ständiger Planungen und Drohungen mit Abspaltung und mit neuerlichen Territorialansprüchen Serbiens und Kroatiens. Dieser schlafende Krieg braucht einen umso wacheren Frieden.

Es gab, anders als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Nürnberger Prozessen, in Dayton keine Siegermächte. Jedenfalls wird man offenbar – je nach dem Grad nationalistischer Verirrung – mit dem Zwang zum Siegen nie fertig. Weder operativ noch rhetorisch – und weder kognitiv noch psychisch. Statt die eigenen Kriegsverbrechen anzuerkennen und aufzuarbeiten, werden bis heute von der serbischen Regierung und ihren Militärs alle serbischen Kriegshandlungen und -verbrechen gegenüber ihren Nachbarn offiziell als "Befreiungskriege" betitelt. Mittels dieser Umdeutung werden systematisch mit hohem Ressourcen- und Medienaufwand das Bild und das Narrativ einer legitimen Rückeroberung verlorenen Territoriums, das in das Mutterland wieder eingegliedert werden müsse, verbreitet. Hierin eine fatale Parallelität zu Putin und seiner Proklamation eines "großrussischen Volkes" aus "Russen, Belarussen und Ukrainern" zu erkennen – mitsamt der vermeintlich daraus folgenden territorialen Ansprüche auf das Gebiet der gesamten Ukraine – erfordert wenig Phantasie. Nahezu jeder "moderne" Krieg kennt dieses rhetorische Muster, jeden noch so brutalen Angriffskrieg zu einem Akt der Selbstverteidigung zu erklären.

UN erklären 11. Juli zum weltweiten Gedenktag

Etwas über ein Jahr vor dem 30. Jahrestag des schrecklichen Höhepunkts der Kriegsverbrechen auf bosnischem Boden ist der 11. Juli von den Vereinten Nationen zum weltweiten Tag des Gedenkens an den Völkermord von Srebrenica erklärt worden. Zugleich wird jegliche Leugnung des Genozids verurteilt. Die entsprechende, maßgeblich von Deutschland und Ruanda ausgearbeitete Resolution wurde am 23. Mai 2024 von der UN-Generalversammlung angenommen: mit 84 Ja-Stimmen gegen 19 Ablehnungen. Allerdings bei 68 Enthaltungen. 

Dass nicht nur Serbien und Russland neben Ländern wie Nordkorea, Belarus und China mit Nein stimmten, sondern auch Ungarn, zeigte erneut, dass historische Fakten nicht etwa Einstimmigkeit oder mindestens glasklare Mehrheiten garantieren. Weder weltweit, noch in der EU. Unter den 68 Enthaltungen fanden sich auch Griechenland, Zypern und die Slowakei – neben Indien und vielen Ländern des globalen Südens sowie einigen arabischen Ländern.

Das Internationale Kriegsverbrecher-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag haben juristisch festgestellt, dass das Massaker von Srebrenica explizit ein Genozid war. Die vorrangigen Ziele der Resolution bilden das Gedenken an den Völkermord und seine Opfer, auch als Mahnung an die Völkergemeinschaft für die Zukunft. Die aktive Aufarbeitung und Dokumentation der Verbrechen des Bosnienkriegs auf allen beteiligten Seiten und das Wachhalten der Erinnerung bilden unverzichtbare Voraussetzungen für eine nachhaltige, friedliche Zukunft in Bosnien und Herzegowina – und natürlich auch darüber hinaus.

Im Text der UN-Resolution wird weder eine Nation noch ein Staat genannt. Dennoch erklärten sich Alexandar Vucic, der Präsident Serbiens und der aktuelle Präsident der Republica Srpska, Milorad Dodik, gemeinsam mit dem gesamten serbischen Volk zu Opfern einer Kampagne. Die Relativierung und Leugnung des Völkermords von Srebrenica sind für sie Kernpunkte ihrer politischen Strategie. Zugleich muss die Lage vor dem Hintergrund des Gedenktages immer auch unter dem Aspekt der inneren Zerrissenheit einer nicht nur in dieser Frage gespaltenen serbischen Gesellschaft betrachtet werden. Dieses Spannungsfeld hat sich im Rahmen unserer bisherigen Festivals in sehr individuellen künstlerischen Positionen abgebildet. Die kreative, wechselseitige Neugier der BIH-Film- und Kunstschaffenden über alle Grenzen hinweg anregend und beruhigend zugleich. Man könnte glauben, dies wäre ein friedliches Land. Immun gegen jeden alten und neuen Ethno-Nationalismus. Und gegen jede Idylle.