Näher als gedacht? Parallelen, Projektionen, Bespiegelungen
Die ehemalige Bergbau-Stadt Bottrop ist die "kleinste Großstadt" unter den insgesamt 53 aneinandergrenzenden Städten an Ruhr und Emscher. Über 5 Millionen Einwohner:innen erleben und prägen hier nicht nur einen der größten Ballungsräume Europas und den größten in Deutschland, sondern auch einen psychopolitischen "Zusammenfall der Gegensätze". Auf der einen Seite gab es am Ort der rauchenden Schornsteine des in den 1950er Jahren einsetzenden deutschen Wirtschaftswunders eine erfolgreiche, "von oben" organisierte Verhinderung konzentrierter Metropolen-Macht in den Händen der traditionell starken Arbeiterbewegung in der Bergbau- und Industrieregion. Der Satz des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer "Wenn die Ruhr brennt, reicht selbst das Wasser des Rheins nicht aus, um sie zu löschen" ist in dieser Hinsicht so bekannt wie paradigmatisch. Auf der anderen Seite gab es – nicht nur im Fußball – traditionelle ruhrgebietsinterne Städterivalitäten. Noch prägender war aber die solidarische, heterogene und dezentrale Nachbarschaftskultur in den Zechensiedlungen und Quartieren, die sich bis heute in unzähligen informellen Netzwerken mit einer ausgeprägten Immunität "von unten" fortsetzt: gegen jegliche zentralisierte Verwaltungsmacht.
Ein schillernd heterogenes, bisweilen paradoxes urbanes Gebilde also. Zudem mit einem echten Alleinstellungsmerkmal: einer von außen verordneten Aufteilung der Verwaltungsmacht in drei getrennte Bezirke. Das Ruhrgebiet wird daher bis heute nicht aus seiner eigenen inneren, unverwechselbaren, industriell und multiethnisch geprägten Einheit heraus verwaltet. Die drei Regierungspräsidien des Ruhrgebiets befinden sich räumlich außerhalb: im westfälischen Münster, im rheinischen Düsseldorf und in Arnsberg im Sauerland. Zweifellos unterscheidet sich das Ruhrgebiet in seiner Landschaft, Kultur, Wirtschaft, Sozialstruktur und Mentalität in viel größerem Maße von allen drei genannten Städten, als dies für die drei genannten Bezirksregierungssitze untereinander gilt.
Charakteristisch für das Ruhrgebiet als historisch junge und sehr schnell gewachsene Montanregion ist die kulturelle Vielfalt seiner Bevölkerung. Dies schlägt sich allen Lebensbereichen nieder – insbesondere aber in Kunst und Kultur. Neben einem breiten Angebot an Museen, Opernhäusern, Kinos, Theatern- und Musiktheatern hat sich die Region in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten unter dem Begriff der Industriekultur als Anziehungspunkt u. a. für Raumplaner:innen, Denkmalschützer:innen, Architekt:innen, Performance-, Klang- und Licht-Künstler:innen, Designer:innen, Fotograf:innen und nicht zuletzt Filmemacher:innen etabliert.
Was den Bereich des Films angeht, kommt im Ruhrgebiet niemand an einem historischen Datum vorbei. Am 28. Februar 1962 wurde – nur eine Handvoll Kilometer von Bottrop entfernt – mit der Proklamation des Oberhausener Manifests von 26 Filmschaffenden gegen massive Widerstände deutsche Filmgeschichte geschrieben. Den Rahmen gab die 8. Ausgabe des 1954 gegründeten und damit ältesten Kurzfilmfestivals der Welt, der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Das damals vom jungen Alexander Kluge präsentierte Manifest zielte auf nicht weniger als eine radikale und umfassende Neuaufstellung des Filmschaffens in Deutschland. Für viele bis heute entscheidende und tragende Strukturen der Filmwirtschaft – bis hin zur öffentlichen Filmförderung des Bundes, zu den Filmhochschulen oder eben zum Erfolg des Neuen Deutschen Films als spezifischer Spielart der internationalen Tradition des Autorenfilms – wurde hier der erste Stein ins Rollen gebracht.
Ziemlich genau zum Zeitpunkt des Oberhausener Manifests wurde die Stadt Bottrop – wie das gesamte Ruhrgebiet nach dem Mauerbau 1961 und dem Wegfall der Zuwanderung von Arbeitskräften aus der DDR –, zum Ort der Arbeit, der Zuflucht und der Hoffnung auf glückliche Fügungen für viele Menschen aus dem Süden Europas. Nach den ersten Anwerbeabkommen mit Italien bereits ab 1954, mit Spanien und Griechenland 1960 und mit der Türkei 1961 folgten bis zum Ende der Sechzigerjahre Portugal, Marokko, Tunesien – und 1968 Jugoslawien.
Diese Abkommen senkten in den Herkunftsländern nicht nur die Arbeitslosenzahlen. Auch die Devisen, die von den Arbeiter:innen aus Deutschland in ihre Heimat zurückflossen, wurden für die dortige Wirtschaft zu einem wichtigen Faktor.
Viele der ursprünglich nur als "Gastarbeiter" für einen zeitlich begrenzten Arbeitseinsatz gekommenen, fast ausschließlich männlichen Migranten nutzten bald die Möglichkeit, ihre Familien nachzuholen. So wurden Bottrop und das Ruhrgebiet erstmals in größerem Umfang zum Auslöser vieler Brüche in bosnischen Lebensläufen: als Hoffnungsort für glückliche Neuanfänge. Oder mindestens zu einem Ort der Sehnsucht danach. Für viele aber auch ein Ort der Desillusionierung. Denn die Willkommenskultur erwies sich auch schon in diesen Jahren als produktivitäts- und konjunkturabhängig. Der Vorteil des Anwerbungsabkommens mit Jugoslawien galt nur von 1968 bis 1973. Mit der Ölkrise 73/74 war für viele Familien der erste Deutschland- und Europatraum ausgeträumt. Es sollte nicht der letzte sein.